Inhaltsverzeichnis
1. Zielgruppe
2. Begründung des Konzeptes
3. Rahmenbedingungen
4. Ziele und Aufgaben
5. Bildungsinhalte
6. Literaturtipps

 

1. Zielgruppe

1.1) Es gibt derzeit keine einheitliche Definition der Bezeichnung „schwer-mehrfache Behinderung“. Ausgehend von der Definition des Begriffs „Behinderung“ als ein Komplex von persönlichen Funkti-onseinschränkungen, daraus folgenden Aktivitätsbeeinträchtigungen und sozialen Reaktionen in Form von nichtgewährter Partizipation, kann „schwer-mehrfache Behinderung“ als
- eine stark reduzierte Partizipation in fast allen Lebensbereichen
definiert werden.

1.2) Eine Festlegung durch Negativbeschreibungen ist jedoch nicht angebracht, denn eine Entfaltung von adäquaten heilpädagogischen Zugangs- und Handlungsweisen stützt sich auf Ressourcen und Kompetenzen. Es geht um ein Denken in Möglichkeiten. Im Sinne einer humanistisch-heilpädagogi-schen Sichtweise kann folgende bedürfnis- und interessenorientierte Umschreibung nützlich sein: Es sind Menschen,
- die unter Umständen körperliche Nähe brauchen, um andere Menschen überhaupt wahrzunehmen,
- die Menschen brauchen, die sich auf ihre Ausdrucksmöglichkeiten einstellen und mit denen kom-munizieren auch ohne gesprochene Sprache möglich ist,
- die Menschen brauchen, die ihnen die Umwelt und sich selbst auf verständliche Weise nahe bringen,
- die Menschen brauchen, die ihnen Fortbewegung, Positions- und Lageveränderung nachvollziehbar ermöglichen,
- die Menschen brauchen, welche adäquate Spiel- und Bildungsangebote gestalten, selbständige Aktivitäten unterstützen, Interaktionen unter den Schüler/innen fördern und Freiräume arrangieren,
- die Menschen brauchen, die sie zuverlässig versorgen und fachlich kompetent pflegen (vgl. Fröhlich, 2007, S. 224).


2. Begründung des Konzeptes

2.1) „Pädagogik angesichts schwerster Behinderung stellt eine grundsätzliche Herausforderung an die Disziplin, wie an jeden einzelnen, der sich damit beschäftigt, dar. Pädagogik, auch Sonderpäda-gogik, wird häufig an ihre scheinbare Grenze gebracht, wenn ihr Gegenüber so schwer behindert ist, dass systematische Lern- und Entwicklungsprozesse unmöglich erscheinen. Und so wurden denn lange Zeit schwerstbehinderte Menschen weitestgehend einer liebevollen, fürsorglichen, oder eben aber auch nur versorgenden Pflege überlassen.
Pädagogik hat diesen Personenkreis erst relativ spät ‘entdeckt’ und ist immer noch damit beschäftigt, innerhalb dieser Systematik einen Platz für diese Gruppe von besonders schwer behinderten Men-schen zu finden“ (Fröhlich, 1991, Vorw.).

2.2) Das vorliegende Konzept versucht also, eine nicht neue Frage konkret für die Heilpädagogische Schule Seidenbaum zu beantworten:
- Welchen Platz haben Schüler/innen mit schwer-mehrfacher Behinderung in der Systematik der Heil-pädagogischen Schule Seidenbaum?

 

3. Rahmenbedingungen

3.1) Alle Mitarbeitenden an der Heilpädagogischen Schule Seidenbaum bringen grundsätzlich die Bereitschaft mit, ihren Unterricht, ihre Therapie und Einzelförderung so zu gestalten, dass es allen Schüler/innen möglich ist, daran teilzuhaben. Egal welcher Art und Weise und welchen Schweregra-des die Behinderung ist.
Keine Schüler/innen dürfen generell aufgrund ihres Behinderungsbildes aus Unterricht, Therapie und Einzelförderung ausgeschlossen werden. Für die Mitarbeitenden besteht seitens der Institution die Möglichkeit, sich in diesem Bereich weiterzubilden.

3.2) Für Schüler/innen mit schwer-mehrfacher Behinderung besteht
- einerseits die Basale Förderstufe, die speziell für die unter 1.2) beschriebenen Belange ausgerichtet ist (siehe auch Konzept Basale Stimulation®, Kapitel 2),
- andererseits sind sie in anderen Klassen integriert. Je nach individuellen Bedürfnissen und Notwen-digkeiten besteht die Möglichkeit, blockweise in der Basalen Förderstufe begleitet zu werden.

 

4. Ziele und Aufgaben
Betreffend der Förderung von Schüler/innen mit schwer-mehrfacher Behinderung orientiert sich die Basale Förderstufe am Konzept Basale Stimulation® (siehe separates Konzept). Es können folgende Aufgaben und Ziele formuliert werden.

4.1) Persönlichkeitsbildung durch
- Aufbau bzw. Vertiefung eines positiven Bezuges zur personalen und materialen Umwelt (vgl. Pfeffer, in Fischer, 1985, S. 519) zur Erweiterung der Erlebnismöglichkeiten,
- Begleitung in bestehenden sozialen und gegenständlichen Lebensbezügen zur individuellen, norm-unabhängigen Lebensgestaltung (vgl. Fröhlich, 1998b, S. 96) und
- Orientierung an biographischen Bezügen (Feuser, 1983, S. 25).

4.2) Sinnstiftung durch
- Anerkennung individueller, subjektiver Sichtweisen und Bedeutungszuweisungen,
- dialogischen Austausch zwischen heilpädagogischer Bezugsperson und der Schüler/in mit dem Ziel, der Gestaltung einer gemeinsamen Lehr- und Lernwelt (vgl. Fornefeld, 2000, S.79) und
- beziehungsorientierte Erweiterung von Bewegungsmöglichkeiten, Entfaltung von Wahrnehmungs-prozessen und Gestaltung von kommunikativen Situationen (Fröhlich, A., 2015).

4.3) Integration durch
- Orientierung sowohl an individuellen als auch an gesellschaftlichen und kulturellen Dimensionen (vgl. Fornefeld, 2000, S. 71) und
- Partizipation an zentralen Lebensbereichen und am Leben anderer Menschen in unterschiedlichen Lebenssituationen, die ein Leben so normal wie möglich erlauben (vgl. Fröhlich, 1998b, S. 96).

 

5. Bildungsinhalte und -vermittlungswege für Schüler/innen mit schwer-mehrfacher Behinde-rung – Eine Orientierungsmöglichkeit

5.1) Ich – Du - Umwelt
„Von Beginn seines Lebens an befindet sich jeder Mensch in Austausch mit seiner Umwelt. Bereits der Säugling erschliesst sich mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln (aktiv) seine Umwelt, und er wird gleichzeitig von seiner dinglichen und sozialen Umwelt erschlossen. Neben physiologischen Vorgängen wie z. B. der Atmung handelt es sich dabei immer auch um Vorgänge doppelseitiger Er-schliessung im oben beschriebenen (allgemeinen) Sinn, um Bildung also.
Basale Bildungsaufgaben, d. h. solche, die für jegliche menschliche Entwicklung grundlegend sind, bestehen dabei in der (doppelseitigen) Erschliessung der Grundinhalte des >Ich<, des >Du< und der >Umwelt<. Diese Grundinhalte können mit Musitelli stichpunktartig wie folgt genauer beschrieben werden:
>Ich<: »ich habe einen Körper mit seinen Grenzen und seinen Möglichkeiten, ich bin eine Person, ich habe eine Identität, es gibt ein >Innen< und ein >Aussen« (Musitelli 1997, 187).
>Du<: »ausser mir gibt es andere Körper, andere Personen, die mir zwar ähnlich sind, sich aber von mir auch unterscheiden — das soziale Umfeld, das Gegenüber« (ebd.).
>Umwelt<: »es gibt ausser mir auch noch Dinge, die sich total von mir unterscheiden, es gibt Gegen-stände mit denen ich mich nach und nach befassen lerne, und es gibt eine Umwelt, in der ich atmen kann, die mich hält, die mich aber manchmal auch bedroht, die mich manchmal auch meine Grenzen spüren lässt — das alles macht diese >Umwelt< aus« (ebd.).

5.2) Aktivitäten des täglichen Lebens
„Eine weitere heilpädagogisch geeignete Operationalisierung der angerissenen Bildungsinhalte und -vorgänge liefert Liliane Juchli. Sie hat — auf der Pflegetheorie Nancy Ropers aufbauend (vgl. Stäh-ling 2000, 109f) — den Begriff der »Aktivitäten des täglichen Lebens« (ATL) geprägt und in der Pflege(wissenschaft) etabliert. Der Grossteil der ATL benennt indes basale Prozesse doppelseitiger Erschliessung, d. h. basale Bildungsprozesse. Gerade wenn und weil sich eine heilpädagogische Schule als Bildungseinrichtung (im Kontext kognitiver und schwerster Behinderung) versteht, kann sich ihre inhaltliche Arbeit daher sinnvollerweise an den ATL orientieren, wie wir sie im Folgenden leicht modifiziert von Juchli übernehmen (Kellnhauser et al. 2000, 265-707):
Aktivitäten des täglichen Lebens sind
- Wachsein und Schlafen; - sich sicher fühlen und ver-
- sich bewegen; halten;
- sich waschen und kleiden; - Raum und Zeit gestalten -
- essen und trinken; Arbeit, Bildung (i. e. S.),
- ausscheiden; Spielen;
- Körpertemperatur regulieren; - Kommunizieren;
- atmen, Puls und Blutdruck regulieren - Kind, Frau, Mann sein;
- Sinn finden im Werden, Sein und Vergehen“ (Mohr & Fröhlich, 2003, S. 355).

5.3) Bildung im engeren Sinn
Bildung ist als Wissen und Können, mit dem wir denken und handeln, grundsätzlich in uns verankert. Wir gebrauchen es als Werkzeug, um Probleme zu lösen und zur weiteren Lebensgestaltung. So gesehen sind “Lebensrecht und Bildungsrecht…zwei Aspekte ein und derselben normativen Aner-kennung des Menschen als eines Wesens, dessen Leben auf Weiterentwicklung angelegt ist” (Antor & Bleidick, 1995, S. 14). Die Sichtweise von Bildung als “kulturelle Teilhabe” (Speck, 1998, S. 44) bedeutet, dass Kultur als Lebenspraxis erfasst werden kann, indem sie das gemeinsame Leben in seinem Denken und Handeln gestaltet. Kultur
- verweist somit die Menschen aufeinander,
- entwickelt ihre Bedürfnisse nach Ausdruck und Darstellung,
- ist Handlungsraum ihrer Sinnfragen, ihrer Werte, Normen und Ideen,
- entfaltet Lebensentwürfe und Lebensgestaltungen.
Unterlagen mit praxisorientiert-konkreten Informationen, Hilfestellungen, Ideen und Beispielen sind auf dem internen „Server“ zu finden und werden laufend aktualisiert. Bücher zu dieser Thematik kön-nen in der Basalen Förderstufe ausgeliehen werden.

 

6. Literatur(-tipps)
Büker, U. (2014). Kommunizieren durch Berührung. Kindern mit Behinderung begegnen durch Basale
Stimulation®. Düsseldorf: Verlag Selbstbestimmtes Leben.
Fröhlich, A. (2015). Basale Stimulation® - ein Konzept für die Arbeit mit schwer beeinträchtigten
Menschen. Düsseldorf: Verlag Selbstbestimmtes Leben.
Fröhlich, A. & Freunde (2014). Bildung – ganz basal. Düsseldorf: Verlag Selbstbestimmtes Leben.
Fröhlich, A. (2012). Basales Leben. Texte zur Arbeit mit schwer beeinträchtigten Menschen.
Hochspeyer: Internationaler Förderverein Basale Stimulation® e.V..
Fröhlich, A. & Bienstein, C. (2012). Basale Stimulation® in der Pflege. Die Grundlagen. Bern: Huber.
Fröhlich, A. & Simon, A. (2004). Gemeinsamkeiten entdecken. Mit schwerbehinderten Kindern
kommunizieren. Düsseldorf: Verlag Selbstbestimmtes Leben.
Grunick, G. & Maier-Michalitsch, N. / Hrsg. (2010). Leben pur – Kommunikation bei Menschen mit
schweren und mehrfachen Behinderungen. Düsseldorf: Verlag Selbstbestimmtes Leben.
Haupt, U. (2006). Wie Lernen beginnt. Grundfragen der Entwicklung und Förderung schwer behinderter
Kinder. Stuttgart: Verlag Kohlhammer.
Kristen, U. (2002). Praxis Unterstützte Kommunikation. Eine Einführung. Düsseldorf: Verlag
Selbstbestimmtes Leben.
Maier, N.J. / Hrsg. (2006). Leben pur – Ernährung für Menschen mit schweren und mehrfachen
Behinderungen. Düsseldorf: Verlag Selbstbestimmtes Leben.
Maier-Michalitsch, N.J. / Hrsg. (2008). Leben pur – Schlaf bei Menschen mit schweren und
mehrfachen Behinderungen. Düsseldorf: Verlag Selbstbestimmtes Leben.
Maier-Michalitsch, N.J. / Hrsg. (2009). Leben pur – Schmerz bei Menschen mit schweren und
mehrfachen Behinderungen. Düsseldorf: Verlag Selbstbestimmtes Leben.
Mathys, R. & Straub, J. (2011). Spastizität. Pflegerische Interventionen aus Sicht der Basalen
Stimulation® und der Ortho-Bionomy®. Bern: Huber.
Reuther-Strauss, M. & Medwenitsch, M. (2013). Bewegen gemeinsam gestalten. Positionen und
Bewegungsübergänge mit mehrfach beeinträchtigten SchülerInnen. Dortmund: Verlag Modernes Lernen.
Schlichting, H. (2013). Pflege bei Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen.
Düsseldorf: Verlag Selbstbestimmtes Leben.


Konzept Basale Förderstufe als PDF-Datei